Wenn man schon auf den Mittelaltermärkten unterwegs ist, stellt man fest, dass sich sehr viel im Grunde genommen lediglich um eine einzige Frage dreht:
Was ziehe ich an… ?
Das ist tatsächliche eine der Schwierigsten Fragen, der man sich stellen muss, wenn man nicht als Vollklops im Zentrum stehen will:
- Nicht zu neu
- Nicht zu alt
- Nicht zu cool
- Nicht zu konservativ
- Nicht zu gesundheitsschädlich
Und so weiter und so fort. Die Möglichkeiten sind zwar dank Hollywood nahezu unbegrenzt, die Vorstellungskraft von Menschen, die dort sind, um allen zu erklären, wie es wirklich war, leider umgekehrt proportional verteilt.
Was immer keiner in diesem Zusammenhang versteht, ist, dass das Mittelalter vorbei ist und eigentlich keiner so richtig weiß, was es damit auf sich hat. Und die paar Funde zeigen eindeutig, dass man nichts weiß über die damalige Mode mit Ausnahme von ein paar Niederschriften, die als Designvorlage und Schnittmuster dienlich sind.
Und wie extrem diese Designvorlagen von der allgemeinen Realität abweichen können, zeigen die regelmäßig stattfindenden Mailänder Modewochen:
Hungerhaken präsentieren Kleidung, die mitunter so lächerlich und sinnbefreit sind, dass man mit diesen Sachen in der Öffentlichkeit eher eine Anzeige wegen Erregen öffentlichen Ärgernis bekommt denn wirklich Bewunderung und Applaus.
Wenn wir Glück haben, finden dem Zusammenbruch des Internest sei Dank in 1000 Jahren ein paar Forscher ein paar Bücher mit Designstudien aus Latex und Lack von Modezaren an Orten, wo wohl mal eine richtig große Stadt war. Die logische Schlussfolgerung:
Es muss die allgemeine Mode der Großstadt um ‚2000 rum gewesen sein. Fundorte an einem Ort, der Reeperbahn hieß, belegen unglaubliches über den zentralen Hafenstandort Hamburg in der Rolle der Mode in Deutschland. Ungeachtet der Frage, wie viele es wirklich aktuell tragen, es dürfte eine interessante Schlussfolgerung in einem Museum sein, Lack und Latex als das Wahrzeichen des 2. Jahrtausend der Menschheit in Deutschland dar zu stellen…
Ja, und vor diesem Hintergrund sollte man jetzt also meinen, dass diese Modefrage auf mittelalterlichen Veranstaltungen eigentlich eine untergeordnete Rolle spielen sollte, aber weit gefehlt:
Es ist sogar DIE zentrale Rolle!
Und wieso, kann man auch relativ einfach erklären. Auf einem Markt dieser Art ist nichts – absolut gar nichts – authentisch oder wirklich echt:
- Hobbygruppen bauen ein ganzes Wohnzimmer für ein Wochenende auf und betreiben Camping
- Händler verhökern jeden 1€- Mist für richtig teures Geld
- Die Domkrakauer oder Thyringer Bratwurst gibt es mit dem beliebten „Flens“ und Cola
- Die Musiker verwenden jede Menge generatorbetriebene Ton- und Lichttechnik
- Kinderschminken ist eine tolle Sache zur Bespaßung
Kurz gesagt:
Ein „Mittelaltermarkt“ ist inzwischen nichts anderes mehr als ein besser aufgestellter Flohmarkt mit Entertainment. Das Warenangebot, das vor 30 Jahren und damit vor dem Internet und den Billigdiscountern an jeder Ecke noch in ländlichen Bereichen interessant war, WEIL man es nicht einfach so bekommen konnte, hat sich nicht verändert, nur der Preis ist eine buchstäbliche Unverschämtheit. Echtes Kunsthandwerk ist auch sehr selten geworden, die meisten wirklichen Kunsthandwerker machen sich ja nicht einmal mehr die Mühe, da es ihnen zu doof ist, sich mit Hobbyisten Wortduelle über Authentizität des Auftritts zu liefern. Dafür gibt es tatsächlich spezielle Kunsthandwerkerveranstaltungen.
Zieht man alle diese Attribute ab, bleibt von einem eigentlich gut gedachten „Mittelaltermarkt“ nicht mehr sehr viel mittelalterliches über, es verbleibt ein Kulturflohmarkt mit professionellen Händlern, die übliche Bühne für Musik und ein wenig gut gemeintes Kulturprogramm mit mal mehr oder weniger gelungenen und teuren Faschingskostümen. Wen wundert es da, dass ein paar Bücher und Funde auf einmal von Veranstaltern zum Rettungsanker und zum heiligen Gral der Marktkultur erhoben wird? Letztendlich ist es eine Entertainmentveranstaltung und eine Bühne für egozentrische Selbstdarsteller, und mehr nicht. Und die ganzen Wikinger, die felsenfest glauben, dass das Leben um 1200 nach Christus besser war:
Hoffentlich habt ihr niemals Zahnschmerzen und braucht eine Wurzelbehandlung, …
Jetzt kommt die große Frage:
Sollten Mittelaltermärkte sich generell weiterentwickeln und neue Wege beschreiten, um die Jugend wieder an zu sprechen (also in die Richtung Popkultur mit Fantasy und Cosplay gehen) oder lieber an den alten Werten festhalten?
Meine Meinung steht da fest:
Ich finde ja, es muss sich dringend etwas verändern. Die althergebrachten Veranstaltungen wirken inzwischen wie die Betreiber altbacken und vergreist. Die Musik ist ausgetreten und irgendwie hat man alles schon einmal gehört. Was wirklich fehlt, sind frische und unkonventionelle Impulse, die in alle Richtungen geöffnet sind und damit der neuen Generation einen ansprechenden Ort zur Selbstdarstellung bieten.
Wer lieber auf seinen alten Veranstaltungen verbleiben will und damit nicht klar kommt, dass eine Außenposten von Raumschiff Enterprise oder Kampfstern Galactica neben ihm Stellung bezogen hat, muss ja nicht ausgerechnet auf so eine Veranstaltung gehen.
Die generelle Ablehnung aus Prinzip und der Versuch, nur unter seines Gleichen zu bleiben, ist hier kontraproduktiv.
Ich bin jederzeit bereit, mein Lager an diese Herausforderungen an zu passen, da „das Mittelalter“ mir persönlich nichts mehr zu bieten hat und ich lieber mit Dr. Who in einer Tardis durch Raum und Zeit reisen würde, …
Und wer unbedingt eine bestimmte Veranstaltung besuchen will, um später sagen zu können, er war ja dabei und vor Ort, ist selber schuld, wenn die anderen Bewohner dieser Veranstaltung ihm nicht zusagen.
Denn es steht jedem frei, sich vorher genauer zu informieren.
Was denkt ihr?