Hell stieg der rote Ball des Tagsterns über den Horizont und kündigte den Morgen an. Der erste Frühlingstau schimmerte in bunten Farben, eine seltsame Stille überzog das gesamte Land. Die Luft, vom frühen Nebel noch geschwängert, war herrlich frisch, als ich über die Wiese ging. Ich blickte mich um, und sah meine eigenen Spuren, wie sie sich durch das Gras wand. „Fast wie eine Schlange“, dachte ich bei mir und aus alten Zeiten viel mir eine Geschichte ein, als die Schlange noch Beine hatte und immer unzufrieden war mit sich. Schließlich riss sie sich die Beine aus, auf dass sie lautlos durch das Gras gleiten zu können, und sie dachte sich, jetzt würde sie alle Geheimnisse dieser Welt erkunden können. Und sie sucht noch bis zum heutigen Tag die Weisheit aller Dinge, verbittert und still gleitet sie vor sich hin. Denn auf ihrer Suche hatte sie eines vergessen, nämlich warum sie sich auf die Suche gemacht hatte.
Und ihr kam in den Sinn:
Wenn sie herausfinden würde, warum sie sich auf die Suche nach aller Weisheit gemacht hatte, dann würde sie auch finden, wonach sie immer gesucht hat.
Und so schleicht die Schlange lautlos durch das Gras, auf der Suche nach dem Anfang aller Dinge Lebens, dem Anfang der Dinge, die wohl – so glaubt sie es – das Ende aller Dinge sein wird. Ein beschwerlicher Weg, durch Sturm und Regen führt er, durch Hunger und Durst. Einmal, da fand sie ein kleines Kaninchen, welches am Wegesrand saß und bitterlich weinte. Da fragte die Schlange: „Warum weinst du denn?“ „Ach,…“ schniefte das Kaninchen, „ich habe meine Geschwister verloren, und jetzt weiß ich nicht mehr, wie ich sie finden soll. Ich habe so große Ohren, ich höre selbst noch das ferne Rauschen des Windes in den Bergen, aber ich kann sie nicht finden. Wo sind sie nur?“ Die Schlange überlegte kurz und antwortete: „Ich kann dir helfen! Manchmal sind die großen Ohren nicht von Bedeutung, selbst wenn du den Wind in den fernen Bergen hörst. Ich kann das nicht, denn ich habe keine Ohren. Aber ich spüre das Laufen deiner Geschwister. Lass mich dich leiten.“
Und so folgte das Kaninchen der Schlange bis zu seinen Geschwistern, da die Schlange sie laufen spürte. Schließlich fanden sie. Da sprach das Kaninchen überglücklich: „Wie soll ich mich jemals bedanken?“ Die Schlange fragte: „Weißt du, wo ich den Anfang aller Dinge finde? Denn dort werde ich wissen, warum ich alle Weisheit suche.“ Das Kaninchen wusste es nicht, doch sprach es leise: „Ich würde an deiner Stelle den Nordwind fragen, er weiß bestimmt, wo du den Anfang aller Dinge findest.“
So machte sich die Schlange auf, den Nordwind zu suchen. Nach langer Zeit der Wanderung fand sie ihn tief in dem Gebirge der Nordberge. Eisig wehte er über die Gipfel hinab. Da saß ein Adler am Fuße des Berges und weinte.
Die Schlange fragte:“Warum bist du so traurig, dass du weinen musst?“ Der Adler sprach traurig: „Ach, ich habe mir den Flügel gebrochen. Und bis er nicht geheilt ist, bin ich es auch nicht. Ich vermisse so das Rauschen des Windes, wenn es durch meine Schwingen singt.“ Die Schlange überlegte kurz und sprach aufmunternd: „Schau mich an, ich habe weder Flügel noch Beine, und dennoch finde ich einen Weg, den Wind zu spüren. Folge mir.“ Die Schlange wand sich einen Baum hinauf, und er Adler folgte ihr. Bis in die höchsten Wipfel kletterten sie voller Mühe gemeinsam. Da sprach die Schlange: „Warte kurz, ich will dir etwas schenken.“
Während der Adler im Schutz der dicken Äste kauerte, um nicht hinunterzufallen, sammelte die Schlange kleine Zweige und Äste, und baute ein großes Nest weit oben in den Zweigen. Breit und groß, dass der Adler nicht hinunterfallen kann. Sie sprach zum Adler: „Nun komm hinauf und setze dich hier hinein. Im Schutze des Nestes wirst du den Wind spüren können, bis du wieder mit dem Wind fliegen kannst.“ Der Adler saß in seinem Nest und drehte seinen Körper in den Wind. Die Freude kehrte zu ihm wieder und die Tränen trockneten.“ Wie kann ich dir nur helfen, liebe Schlange?“, fragte der Adler fröhlich. Die Schlange antworte: „Kannst du den Nordwind fragen, ob er den Weg zum Anfang aller Dinge kennt?“ Der Adler schloss die Augen und antwortete nach kurzer Zeit: „Nein, er weiß es nicht. Aber er findet, du solltest den Südwind
fragen.“
So machte sich die Schlange auf den Weg zum Südwind. Als sie weit gereist war in die fernen Berge des Südens und am Fuße des großen Südberges angekommen war, spürte sie die warme und liebevolle Wärme. Sie war ganz anders als der eiskalte Nordwind. Da dachte sich die Schlange, vielleicht ist der Nordwind ja das Ende aller Dinge, eiskalt und doch wunderschön, und der Südwind ist der Anfang. Doch wo ist dann die Weisheit alle Dinge?
Wie die Schlange so überlegte, hörte sie wieder ein leises Weinen. Es war eine Blume, die sich schüchtern im Schatten der Berge versteckte. „Warum weinst du?“, fragte die Schlange abermals. „Ach,“, antwortete die Blume traurig, „ich spüre den Südwind, wie er vorbeisäuselt und meine Blätter streichelt, und ich sehe die Bienen, wie sie an mir vorüberfliegen, aber ich weiß einfach nicht, warum sie niemals zu mir kommen.“
Die Schlange überlegte kurz, und sprach dann: “ Ich kann dir helfen! Sie nahm die Blume aus dem Schatten und brachte sie an einen Ort, wo sie die Blume umgeben von grünem Moos und sonnigen Flecken neu einpflanzte. Als die Sonne und der warme Südwind die Blätter umsorgten, geschah etwas Wunderbares. Die Blätter färbten sich feuerrot und golden, und rochen lieblicher denn je. Da war die Blume überglücklich und fragte: „Wie kann ich dir jemals danken?“ Die Schlange fragte: „Kennst du den Anfang aller Dinge?“ Die Blume überlegte kurz und antwortete: „Nein, aber der Südwind weiß, wo du die Antwort findest. Frage den Mond und die Sterne!“ Als die Schlange sich umwandte, landete eine einsame Adlerfeder neben der Blume und wärmte sie.
So wanderte die Schlange durch einen tiefen dunklen Wald und zur Mitternachtsstunde erreichte sie eine kleine Lichtung. Und dort wartete sie auf den Mond und die Sterne. Die Wolken lichteten sich endlich und da war sie:
Die Mondin, hell und klar leuchtete sie auf die Schlange hinab.
Die Schlange blickte hinauf und fragte: „Kennst du den Anfang aller Dinge?“ Die Mondin antwortete: „Ja, ich kenne den Anfang aller Dinge.“ Die Schlange wurde unruhig und wand sich voller Aufregung: „Kennst du auch das Ende aller Dinge?“ Abermals antwortete die Mondin mit wunderschöner sanfter Stimme: „Ja , ich kenne auch das Ende aller Dinge.“
Da fragte die Schlange: „Und kennst du auch das Geheimnis aller Weisheit?“ Solange schon war sie unterwegs, sie fand den eiskalten, klaren Nordwind wie den warmen und sanften Südwind. Und jetzt, in dieser einen Nacht, würde sie die Antwort finden. Die Mondin antwortete: „Ja, ich kenne das Geheimnis der Weisheit.“ Die Schlange flehte: „Bitte, sag es mir, solange schon suche ich, ich schnitt mir sogar die Beine ab, und schwor, sie erst wieder wachsen zu lassen, wenn ich den Anfang, das Ende und die Weisheit gefunden habe…!“
Da sprach die Mondin sanftmütig: „Ich kann es dir nicht sagen, denn was du suchst, wirst du selber finden müssen. Aber ich gebe dir einen Hinweis. Warte auf dieser Lichtung, bis du meinen Bruder, den Tagstern über den Horizont erglühen siehst und schaue dann nach Süden. Und dann wirst du es sehen.“ So wartete die Schlange die ganze Nacht auf der Lichtung, welche im Tau zu schimmern begann und das Licht der Mondin einfing.
Gespannt schaute sie zum Firmament hinauf und sah, wie erst die Sterne verblassten und der Himmel sich in ein dunkles Blau färbte und der Morgen sich ankündigte mit einem ersten Streifen von Morgenröte. Auf einmal erschien im gleißenden Feuer die Sonne am nördlichen Himmel. Da blickte die Schlange nach Süden und sah, wie die Mondin verblasste.
Und sie rätselte:
Was wollte die Mondin mir nun sagen?
Was haben Nordwind, der Südwind, ein Adler, der darauf wartet, in den eisigen Norden gleiten zu können, gleiten zu können und eine Blume, die aufleuchtete, als sie das erste Mal ihren Schatten verließ, gemeinsam? Und warum verblasste die Mondin im Süden als der Tagstern im Norden erschien?
Es gibt doch kein Anfang und kein Ende, alles ist ein Kreis, wie soll sie da jemals das Ende finden?
Die Schlange verstand es nicht, doch sie wusste eins:
Sie würde nie wieder ihre Beine wachsen lassen können, denn sie hatte das Ende aller Dinge nicht gefunden. Und den Anfang würde sie auch nie finden, denn sie is genau da, wo einst ihre Suche anfing, vielleicht würde sie eines Tages die Weisheit aller Dinge finden. Doch es würde viel Zeit ins Land gehen.
Und so hinterließ sie eine schlängelnde Spur im Morgentau, und sie sucht bis zum heutigen Tage.