„Verdammt, da hat mich dieses Sackface voll gefraggt“ Mit knallroten Kopf wendet sich der 14-jährige Michael von seiner X-Box ab und schmollt nach einem cholerischen Wutausbruch vor sich hin. Auf die zugegeben berchtigte Frage, wer ihn gefraggt hätte, kam die lapidare Auskunft „na, irgend so ein alter Sack. Die nennen sich selber „die supergraue Gilde“. Das macht doch wirklich so langsam gar keinen Spaß mehr…!“
Wie Michael ergeht es derzeitig tausenden von Teenagern vor ihrer Spielkonsole oder in Onlinespielen. Doch wer – oder besser was – ist diese ominöse „supergraue Gilde“ und ihrem stärksten Mitglied, Fragmaster_anno_94, über die sich zahlreiche Beschwerden in Internetforen häufen? Grund genug, dass wir von Ars Balistica dieser Frage einmal nachgegangen sind…
Und nach einem kurzen Telefonat sehr erstaunliches zu Tage brachte:
Hinter der supergrauen Gilde verbergen sich die internetaffinen Senioren aus der Seniorenresidenz „schöner Sonnenuntergang“. Der ehemalige Bauernhof mit seinen ausgebauten Scheunen mitten im Grünen ist die Wahlheimat von ungefähr 78 Senioren unterschiedlichsten Alters. Die Residenzleitung stellte gerne den
Kontakt zum Gründer der supergrauen Gilde her, und so machten wir kurzerhand einen Termin, der uns gleichermaßen überraschte wie beeindruckte zugleich. Denn wir durften ihn persönlich treffen: Martin Kuchenbeck alias Fragmaster_anno_94!
Aber alles von Anfang an:
Wir saßen im beschaulichen Hofkaffee und sahen uns um. Nichts deutete darauf hin, dass ausgerechnet hier, inmitten der Idylle, eine knallharte Gruppe von Onlinezockern ihr unwesen treiben soll. Nur einige versteckte Hinweise deuteten darauf hin, dass etwas nicht stimmt. Da wäre zum Beispiel beiden älteren Damen einen Tisch weiter, welche immer wieder verschmitzt lächelnd auf ihr modernes Smartphone schauten und dabei vergnüglich tuschelten. Als wir uns genauer umsahen und langsam wussten, wonach wir ausschau halten mussten, kam alles irgendwie verdächtig vor:
Zum Beispiel der Rollator in der Ecke, der mit seinen zwei Tablet-Monitierungen mit erweitertem Batteriesatz weniger wie eine reine Gehhilfe wirkte, oder das gelbe Brett, wo zwischen Grußkarten von Enkeln versteckt Plasmagewehre und Neutronengranaten zum Tausch angeboten wurden, von dem Akkuladegerät und der
Zusatzbatterie auf der Speisekarte ganz zu schweigen.
Kurz gesagt, irgend etwas stimmte hier wirklich nicht.
Und dann kam er: Martin Kuchenbeck, über dessen virtuelle Amokläufe bei Spielen wie PlanetSide, Halo, World of Warcraft oder ConterStrike in den letzten Monaten sich so viele jugendliche Spieler ausgelassen haben. Der 94-jährige stellte seinen Rollator akribisch neben unseren Tisch, setzte sich, und bestellte die Speisekarte sowie eine Docking-Station für sein Netbook. Dann eröffnete er das Gespräch: „Entschuldigung, wenn ich jetzt meine mobile EDV mitgebracht habe, aber diese Online-Imperien leiten sich nun einmal nicht von alleine, und ich kann mein Team nicht so kurz vor der nächsten Schlacht im Stich lassen.“ Nach ein paar Minuten, in der er mit geschmeidigen Bewegungen über Touchpad und Tastatur glitt, klappte er sein Gerät zu und lächelte mit den Worten: „Der kleine Hosenschisser … mal sehen was er dazu sagt! Doch jetzt zu unserem Interview…“
Er sah uns mit seinen alten und wissenden Augen an und wartete ab, was wir jetzt für Fragen hätten.
„Herr Kuchenbeck …“
„Oh Bitte, Martin reicht, wir sind hier nicht so förmlich.“
„Martin…, Du bist der Anführer der supergrauen Gilde?
„ja, das bin ich, der Fragmaster_anno_94, der nicht ohne einen gewissen Stolz in letzter Zeit von sich reden macht.“
„Deswegen sind wir ja auch hier, wir sind neugierig, wer sich hinter diesem Supergamer versteckt. Und ganz ehrlich, wir hätten eher mit einem pubertären Teenager gerechnet, so, wie sich alle in den Foren beschweren…“
„Oh ja, das ist ja gerade das Zynische an dieser Situation. Keiner glaubt, dass wir alten Säcke so etwas noch können, und eher Angst vor der Technologie haben.“
„Naja, eigentlich stimmt das ja auch, oder? Und Sie sind – Entschuldigung, Du bist 1919 geboren. Da erwartet man so etwas nicht unbedingt.“
„Nun, da habt ihr ja auch recht. Aber im Umkehrschluss, was sollen wir alten Säcke denn sagen, wenn selbst die jetzt 28-jährigen mit ihren Geräten noch nicht einmal umgehen können und Angst vor einem runden Knopf haben, weil sie einen eckigen Knopf gewöhnt sind? Das ist vorsichtig ausgedrückt schon ziemlich peinlich, wenn solche Enkel uns erklären, wir könnten nicht mit modernen Geräten umgehen. Verständlich, aber peinlich … vor allem, weil die damit
aufgewachsen sind.“
„Ja, dies ist uns auch schon aufgefallen.“
„Genau, und mal ehrlich: nur, weil unsere mitlweile bis zu 30-jährigen Enkel – Entschuldigung, wenn ich das jetzt so direkt sage – so unfähig sind, dürfen wir diese ganzen coolen Spielzeuge gar nicht erst in die Finger bekommen. Das ist irgendwie unfair, oder nicht? Wo steht denn bitte geschrieben, dass wir nur noch häkeln, stricken und beim Pfeiffchen Heino hören sollen? Wobei Wacken war er schon cool drauf.“
„Du willst uns damit sagen, die Supergraue Gilde war beim Wacken?“
„So in etwa, wir haben uns hier einen Lifestream in den großen Speiseraum via LWL gelegt und dann, wärend er auf der Bühne stand, ihm zu Ehren bei WoW virtell getanzt. Viele haben es hier mit der Hüfte, das geht nicht mehr so gut zu den schnellen Beats. Hat zwar das PnP-Match gekostet, aber das war es uns wert. War ein wenig schräg, 15 Zombies gleichzeitig im Kreis um eine Fahne tanzen zu lassen, aber was solls. Wir sind ja auch nicht mehr die Jüngsten. Aber
ich muss gestehen, wären wir nicht so weit ab vom Schuss, wären einige von uns hingefahren!“
„Andere Frage: Was sagst Du zu den Schummelvorwürfen?“
„Völlig aus der Luft gegriffen, wir haben hier einen Ehrenkodex, der das verbietet. Das ist lediglich der Neid des Erfolgs“
„Nun, bei Word of Warcraft ist die Supergraue Gilde im Ruf ungewöhnlich reich zu sein und jede Menge seltene Items zu besitzen…“
„Dazu möchte ich nichts genaueres sagen, aber so viel kann ich verraten: Es war nicht ganz einfach, ein rotierendes Schichtsystemzum Minen von Ressourcen ein zu führen, welches mit den Essenszeiten der Residenzleitung konform ist.“
„Was haben die Essenszeiten damit zu tun?“
„Nun, das ist einer der Momente, wo hier so eine Art Seniorenvolkszählung durchgeführt wird. Da mussten wir geschickt Kleidung und Perrücken verteilen, so dass die Abwesenheit einiger Teilnehmer an dem Mahl nicht auffällt, und gleichzeitig genug vom Mittagsmenu aus dem Speisesaal schmuggeln, damit wirklich
jedes Mitglied seinen fairen Anteil an dem Essen hat. Das war zu Anfang echt eine Herausforderung aber inzwischen haben wir eine gewisse Routine. Ein anderes Problem stellte natürlich die Nachtruhe dar, aber dank moderner WLAN-Hotspots mit LTE – Uplink sowie passender Remote-Systeme haben wir das auch in den Griff
bekommen.“
„Also seid ihr mittlerweise 24 Stunden am Tag wirklich im Schichtdienst am Zocken?“
„Ja natürlich, wobei es klare Rollenverteilungen gibt, da ist je nach Neigung für jeden etwas dabei. Es geht ja hier vorrangig um den Spaß.“
„Und wenn mal was kaputt geht, wen ruft ihr dann an?“
„Also, dazu müsstet ihr den gildeninternen Leistungseinkauf fragen, aber soweit ich weiß, ist unser gigabitverlinkter Multicore-Cluster mit redundanter Stromversorgung und doppeltem Uplink über unterschiedliche Anbieter die letzten Jahre hinweg noch nie offline gewesen… Einige unserer Sturmtruppen bei Planetside 2 und Halo beklagten lediglich einmal eine etwas magere FPS-Rate.
Einen Ersatz für unseren leider verstorbenen IT-Experten Dr. Baumann zu finden, war das einzige Problem. Solche Rentner wachsen nicht auf den Bäumen.“
„Das klingt energiehungrig. Wie verheimlicht ihr den gesteigerten Strombedarf?“
„Also wirklich, als ob wir Anfänger wären. Auf unseren Vorschlag hin hat die Residenzleitung Vorgelagert Altenwohnungen errichtet, die haben eigene Stromzähler. Wir mussten lediglich ein paar Änderungen am Stromnetz durchführen, und in einer Nacht- und Nebelaktion über den Hof eigene Stromkabel für ein Schattennetzwerk verlegen. Schon hatten wir quasi über Nacht unsere eigenes von der Anlage unabhängiges Stromnetz, welches organisch vor sich hin wächst. Und bevor ihr euch fragt, wie wir das ganze Finanzieren, ich sage da nur Online-Poker …“
Als wir die Frage stellten, wie das Ganze vor der Residenzleitung geheim gehalten wurde, bekamen wir eine SMS von den beiden kichernden Damen vom Nachbartisch mit folgenden Wortlaut:
„Die Mitarbeiter der Residenz sind zwischen 27 und 33 Jahre alt und könnten unsere Enkel sein. Was glaubst Du denn, was die wirklich mitbekommen, hast Du nicht vorhin zugehört?“
Damit war eigentlich jede Frage beantwortet, außer vielleicht, woher die Damen die Handynummer geholt haben. Wir bedankten uns für dieses nette Gespräch und verabschiedeten uns. Aber was uns diese netten Menschen wirklich mitteilen wollten, haben wir nicht ganz verstanden…