„Die Welt war einst in Dunkelheit gehüllt. Am Tage herrschte der mächtige Tagstern, in der Nacht seine Schwester, die Mondin mit all ihrer Schönheit. In dieser Zeit, da die Sterne noch nicht am Firmament hell strahlten, lebte eine kleine Grille. Ihre Aufgabe war es, den Hahn zu wecken, damit er des Morgens laut den Tagstern begrüßen konnte. Dafür schenke die Mondin ihr eine kleine zirpende Geige. Die Grille war glücklich. Jeden Abend begrüßte sie mit ihrem Lied die Mondin, wenn sie sanft das Himmelszelt emporkletterte. Und jeden Morgen, wenn der Feuerball des mächtigen Tagsterns mit seinen flammenden Armen den Himmel feuerrot färbte, begrüßte sie ihn mit einem wunderschönen Lied. Die Grille liebte ihre Aufgabe, und sie spielte meisterhaft ihr kleines Instrument.
Eines Nachts schaute sie in das schwarze samtene Tuch, welches den Himmel umsponn, und fragte sich, warum der Himmel in der Nacht nicht auch so schön leuchtet wie am Tag. Nachdem die Grille sich einen ganzen Monat lang den Kopf darüber zerbrochen hatte, fragte sie schließlich die Mondin: „Bist du nicht traurig darüber, dass der Himmel nicht rot, blau, gelb, orange und in vielen Farben leuchten kann, wie er es bei deinem Bruder macht?“
„Nun“, antwortete die Mondin in einem hellen und sanften Ton, „das ist die besondere Magie meines Bruders. Dank ihm schillern auch die Regenbögen in den buntesten Farben, an deren Ende die Kobolde ihren Topf mit Gold verstecken. Ich gönne es ihm.“ Die Grille schaute hinauf zur Mondin: „Dafür bist du geheimnisvoll und wunderschön. Aber du mußt auf deinem Weg durch das Himmelszelt sehr einsam sein, …“ Die Mondin sprach da leise: „Die Herzen dieser Welt schauen zu mir auf, und bitten mich, ihnen Liebe zu schenken. Wie kann ich da einsam sein?“ Darauf wusste die Grille auch keine Antwort.
So vergingen die Tage und Nächte. Die Grille sah, wie der Himmel sich purpur färbte, der Tagstern die Regenbögen zum Erstrahlen brachte und am Ende des Tages in einem feurigen Rot sich von der Welt verabschiedete. Und dann legte sich das samtene Tuch der Nacht über das Land und mit ihm kam die magische Stille, wenn die Mondin erschien. Das konnte doch nicht sein, dass die Mondin nur eine schlafende Welt um sich herum hat, das ist unfair! Sie, die Mondin, ist doch so endlos viel schöner, geheimnisvoll und schenkt allen Wesen auf der Erde die Liebe, und soll einsam am Himmelzelt wandern bis zum Ende aller Tage? NIEMALS!
An diesem Morgen weckte die Grille mit ihrem Lied den Hahn, wie sie es immer tat, und zusammen begrüßten sie den Tagstern, wie er rot am Himmel aufging. Doch an diesem Morgen war es anders. Mutig trat die Grille dem Tagstern entgegen und erzählte davon, wie einsam doch die Mondin am Firmament ist, auch wenn sie von jedem geliebt wird. Der Tagstern hörte aufmerksam zu und sprach in einer Stimme so schön wie die der Mondin: „Ich beschloss, den Himmel rot und blau zu färben, damit alle wissen, es ist mein Reich, meine taghelle Welt. Meine Schwester hat die dunkle Welt haben wollen, es war allein ihre Entscheidung. Ich habe nicht das Recht, über ihre Entscheidungen zu urteilen.“
Mit diesen Worten verstummte der Tagstern und ließ die Grille mit ihren kleinen Gedanken allein. Was hatte die Mondin vor mit ihrem Reich? Diese schöne, nein, WUNDERSCHÖNE Mondin wolte doch bestimmt nicht allein sein, und die Grille würde sie noch in dieser Nacht fragen. So beobachtete sie sehnsüchtig, wie der Tagstern über den Himmel wanderte, sich mit rötlichen und purpurnen Farben verabschiedete und die taghelle Welt mit ihm ging. Der Himmel färbte sich purpur, wurde dunkelblau und als er fast schwarz war, erschien die Mondin und schimmerte leuchtend über den kleinen Kopf der Grille. Da sprach die Grille: „Oh Mondin, du schönstes Wesen von allem, was es auf dieser Welt gibt, wie kann ich mich deinem Reich anschließen, auf dass es so schön wird wie du ? “ Die Mondin schaute hinab zu der kleinen Grille und sprach sanft: „Mir und meinem Reich zu dienen, ist eine große Aufgabe, die nur mit Liebe und Hingabe erfüllt werden kann bis zum Ende aller Tage.“ Die Grille schaute hinauf und sprach: „Aber ich habe mich doch schon vor langer Zeit verliebt, und zwar in dich. Was kann es schöneres geben, als dir zu dienen? Es ist, so bin ich fest von überzeugt, meine Bestimmung.“
Die Mondin lächelte hinab, als sie jenes hörte, und leuchtete in einem sanften rötlichen und warmen Schimmer – magischer und geheimnisvoller als jemals zuvor. „Wenn es so sehr dein Wunsch ist, wie kann ich ihn ablehnen? Doch der Weg in mein Reich ist lang und voller Wunder.“ An diesem morgen verschlief der Hahn, da keine Grille mit ihrer Geige ihn weckte. Erschrocken krähte er laut auf, und verneigte sich von dem Tagstern: „Verzeiht mir, mein Herr, ich habe meine Aufgabe nicht erfüllt.“ Voller Scham erwartete der Hahn seine Schelte. Der Tagstern, schon hell am Himmel, sprach: „Hab keine Sorge, dein kleiner Freund, die Grille, ist auf dem Weg, ihre Bestimmung zu finden. Dich trifft hier keine Schuld.“
Die kleine Grille schlief am Tage versteckt und wanderte mit der Mondin viele Nächte und unterhielt sich mit ihr, spielte ihr viele Lieder auf der kleinen Geige und tanzte dazu, so sehr freute sie sich, bei der Mondin zu sein. Schließlich erreichten sie einen alten, knorrigen Baum. „Hier ist es…“, flüsterte die Mondin geheimnisvoll, „der Eingang in mein Reich, ein Feenbaum.“ Die Grille fragte neugierig: „Was ist ein Feenbaum? Er sieht so leer aus?“ „Noch“, antwortete die Mondin lächelnd, „denn du wirst ihn mit Leben füllen. Und ich habe für dich, die Grille, die bermerkte, wie leer der Himmel ist, eine ganz besondere Aufgabe ausgesucht.“ Der Grille wurde schwindelig, die Mondin persönlich hatte ihr eine Aufgabe ausgesucht, ein großes Schicksal? Einem so kleinen und unscheinbaren Wesen sollte es vergönnt sein, … „Was muß ich tun?“ fragte die Grille voller Ehrfurcht. Die Mondin lachte, als sie sprach: „Ich habe ein Geschenk für dich, lege dich bei den Wurzeln dieses alten Baumes schlafen, und vertraue mir. Dir wird kein Leid geschehen.“ Und so legte sich die Grille im Schatten des Baumes nieder und schlief voller Vertrauen ein.
Am nächsten Abend, kurz nach Einbruch der Nacht, erwachte die Grille und fühlte sich irgendwie anders. Sie suchte sich einen kleinen See und schaute hinein und sah in das Gesicht einer Fee. Über ihr im Spiegel des Sees sah sie die Mondin leuchten, wie sie sanft auf ihr Kind hinab blickte. „Ja,“, sprach die Mondin auf den fragenden Blick der Grille, „das bist du, die erste aller Feen. Schau einmal zum Himmel …“
Und als die junge Fee zum Himmel erblickte, da sah sie eine Sternschnuppe über das samtene Schwarz glitzern, einer Träne gleich, so weit das Auge reichte zog sie ihre Bahn und deutete auf einen Stern. Es war weit im Norden der allererste Stern, der seit Gedenken am Himmel zu sehen ist. Seit diesem Tage heißt es, dass jedes Mal, wenn ein neuer Stern am Himmel leuchtet, erblickte eine neue Fee das Licht dieser Welt. Und eine Sternschnuppe, so heißt es, ist eine Freudenträne der Mondin, dass sie nie wieder allein über das Himmelszelt wandern müsste.
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